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Besprechung CD

Dmitri Kabalevsky

Symphonies 1-4

cpo 999 833-2

2 CD • 1h 46min • 2001, 2002

24.10.2008

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 9
Klangqualität:
Klangqualität: 9
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 9

Als erstes lädt diese Doppel-CD zu einem politisch grauenhaft inkorrekten Gedankenspiel ein: Was wohl passierte, wenn es einem deutschen Label einfiele, eine der zwischen 1933 und 1945 entstandenen Hymnen auf den Sohn des Zollbeamten Alois Schicklgruber aus Braunau am Inn aufzunehmen – wo doch schon so unverdächtige romantische Dinge wie Hans Pfitzners Deutsche Seele gerade erst wieder bußfertigste Geißlerzüge in Marsch gesetzt haben. Des Heulens und künstlichen Zähneklapperns wäre wohl kein Ende.

Das ist bei einem linientreuen Sowjetkomponisten natürlich ganz was anderes. Wenn ein Dmitri Kabalewsky in seinem Kampfpoem op. 12 das kommende Gewehrfeuer bei Dresden, den Einmarsch in Paris und die Eroberung der Welt besingt, dann tut das der Musik keinen Abbruch, und wenn er in seinem 1962 entstandenen Requiem in demselben Marschtritt an die „Opfer des Faschismus” erinnert, unter dessen Nagelschuhen die ja zertreten wurden, dann wird das mit demselben geduldigen Achselzucken abgetan wie die Parteitags- und ZK-Grußmusiken, mit denen Aram Chatschaturjan den Kreml ergötzte – gar nicht zu reden von so peinlichen Ausrutschern wie Prokofieffs Kantate Zum 20. Jahrestag der Revolution oder den womöglich noch peinlicheren Ausrutschern, die sich Dmitri Schostakowitsch geleistet hat: Das Lied von den Wäldern als Lobgesang auf die stalinistischen Pioniere oder die kürzere Herrlichkeit Über unserer Heimat scheint die Sonne sind sicherlich angetan, das Bild vom immer integren Systemkritiker anzukratzen.

Damit keine Mißverständnisse entstehen: Ich schätze Prokofieff, habe noch dem alten Chatschaturjan bei seiner letzten Deutschlandtournee eigenhändigen Beifall gespendet und ich verehre Schostakowitsch als eine der ganz großen Komponistenpersönlichkeiten nicht nur des 20. Jahrhunderts, während ich andererseits mit keiner Silbe dafür plädiere, alles aus den Verlagskellern in die Aufnahmestudios zu schleppen, was Fred K. Prieberg auf seinen Index gesetzt hat. Nur wäre es allmählich an der Zeit, musikalische Qualität nicht nur deshalb zu verteufeln, weil der jeweilige Verfasser ein menschenverachtendes System überlebte bzw. sich irgendwie mit diesem arrangierte. Es ist beispielsweise nicht einzusehen, warum man sich für die Sinfonien eines Ernst Pepping entschuldigen müßte, während sich ein Requiem für Lenin – das ist die sogenannte dritte Sinfonie von Dmitri Kabalewsky – unbeanstandet publizieren läßt. Gäben nackte kompositorische Fakten und Fakturen den Ausschlag, dann hätte der Russe gegenüber dem Deutschen zumindest mit diesem Opus aus dem Jahre 1933 deutlich den kürzeren gezogen, und wenn es um die Frage der politischen Überzeugungen geht, nun, da dürfte die Sache bestenfalls unentschieden ausgehen, denn ein katastrophaler Irrtum lag und liegt dem braunen und dem roten Faschismus zugrunde.

Versuchen wir’s also mal mit derselben Neutralität, derer selbst die erstklassigen Aushängeschilder des real existiert habenden Sozialismus gelegentlich bedürfen, damit sie verdaulich bleiben: dann schneidet Dmitri Kabalewsky insgesamt gar nicht schlecht ab. Nicht zu bestreiten ist zwar, daß das Pathos des „Lenin-Requiems” den Charme eines Arbeiterdenkmals ausstrahlt und von den frühen Chorsinfonien des Genossen Schostakowitsch einwandfrei in den Schatten gestellt wird. Doch die drei echten sinfonischen Geschwister dieses eher routinierten als inspirierten Produkts lassen viel orchestrale Eleganz und harmonische Extravaganz, vor allem aber eine verblüffende formale Experimentierfreude erkennen und machen jeden neuen Hördurchgang zu einer aparten Entdeckungsreise, die noch reizvoller wird durch die unzähligen Querverbindungen, mit denen Kabalewsky im zeitgenössischen Schaffen seiner Heimat verankert ist. Hin und wieder fühlt man sich an den düsteren Prokofieff der fünften Sinfonie erinnert (die allerdings jüngeren Datums ist als Kabalewskys zweite), dann wieder stampft es in rhythmischen Gesten, die wir heute ganz spontan als „typischen Chatschaturjan” einsortieren, obwohl der 1934 als echter Spätentwickler noch an seiner Examensarbeit saß, während Kabalewsky sein Opus 19 gerade fertigstellte.

Außerordentlich amüsant ist schließlich die unerwartete Begegnung mit dem langjährigen Widersacher Dmitri Schostakowitsch: Wie der wohl dazu gekommen sein mochte, in seiner ohnehin gegen alle roten Fahnen segelnden neunten Sinfonie auf die bald fünfzehn Jahre ältere Zweite eines Mannes anzuspielen, der spätestens seit der Affäre um die Lady Macbeth von Mzensk nicht gerade zu seinen Freunden zählte? Das war eben der feinsinnig-ironische, nervös-sensible Spötter DSCH. Er konnte in einem Aufwasch die kulturpolitischen Holzköpfe zufriedenstellen, indem er sich der schönsten Tonalität bediente, und die Eingeweihten bis ins Mark erschüttern oder, je nachdem, auch zu belustigen: Wenn man bei ihm irgendetwas entdeckt, was nach Zitat und fremdem Zeichen riecht, muß man immer auf dem quivive sein: Entweder reicht er uns unter dem Tisch einen politischen Kommentar oder ein persönliches Geständnis, oder er hat gerade jemandem „eine mitgegeben”.

Dmitri Kabalewsky war da viel einfacher gestrickt und meinte anscheinend genau das, was er musikalisch sagte – mal in größtem Überschwang, mal mit fürwahr packender Lyrik oder mit der finsteren Heftigkeit eines Dorfwahrsagers. Die grobschlächtige, naive Coverabbildung („Zweikampf zwischen dem Russen Mstislav und dem Tartarten Rededja” von M. K. Roerich) ist vorzüglich gewählt: Hier prallen Urkräfte und scharf voneinander abgegrenzte Emotionen aufeinander, hier krachen auch schon mal die Knochen – doch dabei wird nie das Spiel vergessen, das sich vor allem in den subtilen Scherzosätzen der Sinfonien mit derselben filigranen Delikatesse ausleben kann, wie sie in den konzertanten Werken Kabalewskys immer wieder die Oberhand gewonnen hat. Aus seiner Sicht scheint das Leben nicht ganz aussichtslos zu sein, und es ist wohl kein Zufall, daß er auch in seiner erfolgreichsten, wirklich schönen Oper Colas Breugnon etwas von dieser Anschauung auf die Bühne gebracht hat.

Es erübrigt sich, die interpretatorischen Details der hier vorliegenden Aufnahmen zu würdigen, da es sich um die einzige Gesamteinspielung der vier Kompositionen handelt – und die ist so beeindruckend geraten, daß sie sich auch bei häufigerem Hören nicht abnutzt, was wieder insofern sehr erfreulich ist, als der Komponist Dmitri Kabalewsky erst nach und nach seine gar nicht mal unsympathischen Konturen preisgibt.

Rasmus van Rijn [24.10.2008]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Dimitri Kabalewsky
1Sinfonie Nr. 1 cis-Moll op. 18 00:19:35
3Sinfonie Nr. 2 c-Moll op. 19 00:25:37
CD/SACD 2
1Sinfonie Nr. 3 b-Moll op. 22 für Orchester und gemischten Chor (Requiem für Lenin) 00:19:07
3Sinfonie Nr. 4 in C op. 54 00:41:12

Interpreten der Einspielung

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