Johann Caspar Kerll Sämtliche freie Orgelwerke
OehmsClassics OC 362
1 CD • 64min • 2004
08.06.2005
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Ohne die Sammelleidenschaft J. G. Walthers, des Erfurt-Weimarer Cousins von Johann Sebastian Bach, wäre uns heute ein nicht eben geringer Teil der Orgelmusik älterer norddeutscher Meister nicht mehr zugänglich. Ähnliches gilt für Süddeutschland, wo das Werk Johann Kaspar Kerlls das besondere Interesse Gottlieb Muffats fand, der als Sohn eines bedeutenden Vaters zwangsläufig Teil der habsburgisch-baierischen Organistentraditionen geworden war. Seine in Göttweig liegende Sammlung der Werke Kerlls ist heute Grundlage aller modernen Ausgaben, weil aus den Orgelwerken Kerlls ungeachtet ihrer offenbar eminenten Bedeutung für den Orgelunterricht zu Lebzeiten Kerlls allein die Modulatio Organica in den Druck fand, und die wenigen auf uns gekommenen Quellen zudem im 2. Weltkrieg dezimiert wurden.
Joseph Kelemen, aus Ungarn gebürtiger Fachmann für süddeutsche Orgelmusik, nimmt sich in einer Aufnahme des Bayerischen Rundfunks (Koproduktion mit Oehms Classics) der „freien“ Orgelwerke Kerlls an, für die er mit der Orgel von Andreas Putz und Christoph Egedacher in der Kirche des Stiftes Schlägl ein denkbar geeignetes Instrument auswählte. Die Orgel wurde zum einen erst kürzlich restauriert, obliegt zum anderen der Pflege überaus kundiger und verständiger Organisten innerhalb des Konventes, entspricht in grundsätzlicher Werkanlage (pars maior vs. pars minor, vielfältig abstufbares Plenum, leicht abgeschwächte mitteltönige Temperatur) den Erfordernissen der baierischen Orgellandschaft zwischen 1600 und 1790. Nicht zuletzt Kelemens Textteil offenbart eine langjährige Beschäftigung auch mit den Details der süddeutsch-habsburgischen Organistenpraxis im 17./18. Jahrhundert, deren teilweise durchaus traditionsbewusste, ja altertümliche Sichten einen veritablen Streit zwischen F. X. A. Murschhauser und modernistisch denkenden Johann Mattheson in Hamburg auslösten.
Kelemens Anmerkungen zur Mitteltönigkeit teile ich nicht in jeder Hinsicht, denn der (figurale) 4. Ton (a/E-Raum) wäre bei konsequenter Mitteltönigkeit (1/4-Komma-Teilung) mit schwebungsfreier Terz versehen und klänge daher zumindest im Schlussakkord nicht anders als der 5. („C-Dur“) oder 6. Ton („F-Dur“). Erst die für Habsburg/Baiern anzunehmende Praxis der Aufteilung des Orgelwolfes (gs/es) auf zwei Quinten (cs/gs, gs/ds; auch A. Schlick schlug dies vor) vergrößerte die Terz e/gs auf 409 Cent, was Unreinheiten generierte, die hierzulande (vgl. die satztechnischen Topoi auf „gementes et flentes“ in den Salve-Regina-Vertonungen in Baiern seit der Zeit der Lasso-Söhne) aber wohl als Gegebenheiten des figuralen 4. Tones hingenommen wurden, wie denn jedes Verlassen des mitteltönigen Tonartenkanons nicht als Unreinheit, sondern als Überschreiten einer traditionellen „Systemgrenze“ gehört wurde. Ich kann mich also der Sicht Harald Vogels, daß vorkommende Tonarten „möglichst“ rein zu sein haben, nur reserviert anschließen. Umso mehr derjenigen der in Süddeutschland unabdingbaren Voraussetzung der Mitteltönigkeit zwischen Amerbach und Eberlin, ja deutlich davor und noch danach.
Kelemen registriert in souveräner Umsetzung der Vorstellungen der durch ihn auch im Booklet zitierten Manuducutio ad Organum J. B. Sambers (Salzburg 1704/1707), die neben vielen anderen Informationen die liturgisch gebräuchlichen Aufgaben des „klassischen Registerbestandes“ einer süddeutschen Orgel skizziert, zu denen insbesondere die vielfältigste Abstufung der Plena gehört (Alternatim-Versettenspiel). Dabei verzichtet Kelemen keineswegs auf einen wachen Klangsinn: Man höre sich dafür allein die in Baiern durchaus exzeptionelle Zungenregistrierung der Toccata octava und die „süddeutsche Voce umana“ der Toccata quarta an, um Kelemens „Einssein“ mit dem Instrument zu erfahren.
Die Tonaufnahmetechnik ordnet sich dem aufmerksam unter, wobei sie im Hinblick auf den zu dieser Musik (Toccatae maiores) eigentlich gehörenden, hier aber „unterdrückten“, gregorianischen Choral insofern etwas wenig Rücksicht nimmt, als der Raum der Schägler Klosterkirche ein wenig stiefmütterlich behandelt wird. Angesichts des sehr klaren, durchsichtigen Klanges der Orgel wäre mir ein wenig mehr Raum (man kennt die Verhaltensweisen von Wien, Michaelerkirche, von Klosterneuburg, Fürstenfeld(-Bruck) und des deutlich kleineren Maihingen) durchaus nicht zuviel gewesen. Kelemen spielt überdies mit geradezu stupender Virtuosität, gestaltet jeden einzelnen Ton auch in Tempi durch, die oft deutlich über das hinausgehen, was Frescobaldi im Vorwort seiner beiden Toccatenbücher 1637 „della mano agilità“ nennt. Die ganze Aufnahme verströmt dadurch nicht nur einen Hauch fast irrealer Perfektion, sondern auch den einer eigentlich recht unbaierischen Kühle, die ich im Apparatus Georg Muffats, im Neresheimer Orgelbuch oder den Sammlungen Wien-Minoriten 713 oder 714 so gar nicht entdecken kann. Angesichts der „zulässigen Recreation des Gemüts“ hätte ich es gerne gesehen, wenn Kelemen sich etwas mehr Freiheiten gestattete.
Dennoch: Hier fand wieder ein Musiker einen harmonierenden Aufnahmestab, der hörbar Verständnis und Verstehen für seinen Aufnahmegegenstand aufbrachte. Wer erfahren möchte, was baierische Orgelmusik ist, findet hier eine Aufname, die der intensiven Beschäftigung wert ist.
Thomas Melidor [08.06.2005]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Johann Caspar Kerll | ||
1 | Toccata prima | |
2 | Canzone prima | |
3 | Toccata ottava | |
4 | Ciaccona | |
5 | Canzone sesta | |
6 | Toccata quarta Cromatica con durezza, e ligature | |
7 | Capriccio Sopra il Cucu | |
8 | Canzone quarta | |
9 | Toccata quinta | |
10 | Canzone terza | |
11 | Toccata sesta per il pedale | |
12 | Ricercata | |
13 | Canzone seconda | |
14 | Toccata terza | |
15 | Canzone quinta | |
16 | Toccata settima | |
17 | Battaglia | |
18 | Toccata seconda | |
19 | Passacaglia |
Interpreten der Einspielung
- Joseph Kelemen (Orgel)