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ARD-Musikwettbewerb Ein Fenster zu... Kompass

Ein Fenster zu...

Leonard Bernstein

Hör-Tipps anhand von ausgewählten Werken

Als Leonard Bernstein, bereits renommierter Dirigent und Pianist, 1956 in einer seiner populären Fernsehsendungen nach einem Mozart für die amerikanische Musikwelt rief, hatte er wohl nicht zuletzt sich selbst im Visier: kein Zufall, dass ein Jahr später seine West Side Story Premiere feierte. Es ist nicht allein dieses unwiderstehliche Stück, bis heute eines der Hauptwerke des US-Musiktheaters, das Bernsteins Ruf auch als Komponist festigte. Niemand käme angesichts der hier vorgestellten Stücke auf die Idee, „Kapellmeistermusik“ zu vermuten, nur weil Bernstein auch einer der produktivsten und, gerade in seinen letzten Jahren, tiefschürfendsten Dirigenten war. Noch dazu war er sein Leben lang Pädagoge, ein unermüdlich Werbender für die Musik. Er hätte diesen Text wohl am besten selbst geschrieben.

WerkAuswahl

Der Ernst der religiösen Thematik, die der ersten und dritten Sinfonie zugrundeliegt, zeigt, mit welchem Anspruch Bernstein an diese alteuropäische Gattung ging. Und doch gilt auch hier Bernsteins Äußerung, dass „jedes meiner Stücke – ganz gleich für welches Medium – in gewisser Hinsicht Theatermusik ist“. Die dritte Sinfonie Kaddish von 1963 (Revision 1977) wird so zu einer zugleich äußerlichen und innerlichen Suche nach Gott und dem Glauben; Bernstein, jüdischer Konfession, verschränkt drei sinfonische Sätze mit drei Sätzen „Kaddish“, was so viel heißt wie „Gebet“. Das Scherzo der großen Sinfonie für Solisten, Chöre und Orchester stellt, in die Mitte plaziert, so etwas wie einen Traum dar. Ein Sprecher vertauscht seine menschliche Rolle mit der Gottes und führt diesen durch sein Reich: „I’ll take you to your favourite star“ („Ich führe dich zu deinem Lieblingsstern“). Der Verlust des Gesanges, die sanfte, doch „vernünftige“ sprachliche Äußerung, steht im Gegensatz zu dem unwirklichen, heiter-geisterhaften Gespinst aus seltsam trockenen Piccolo-Tönen, Holzbläsern und sich ausbreitenden Pizzicati der Streicher. Wenn der Rollentausch des Menschen mit Gott vollkommen vollzogen ist, bricht das glitzernde, bisher leichte Orchester in massive Schreie der Blechbläser aus. Das ist nicht als blasphemische Handlung zu verstehen, sondern als Verwirklichung der Gottesebenbildlichkeit. Das gesprochene Wort „once you believe“ („Wenn man nur glaubt!“) ruft eine auf ihre Weise wiederum unwirklich schöne Musik hervor. Ein Kinderchor verherrlicht Gott, das richtige Verhältnis ist wiederhergestellt. Gott und Mensch haben den Glauben aneinander gegenseitig nötig.

Quälende Glaubenssuche

Drei Jahre später, 1965, näherte sich Bernstein den religiösen Themen in seinen Kompositionen weitaus eindeutiger. Der Mittelsatz seiner Chichester Psalms, der den 23. Psalm Der Herr ist mein Hirte vertont, stellt nicht in Frage, sondern konzentriert sich darauf, den hebräischen Text in verführerischen Klang zu gießen. Die regelmäßig gebaute und schön geschwungene Melodie der Solostimme wird von der Harfe begleitet. Die Stimme steigert sich zu einem hymnischen, sanften Höhepunkt. Seraphisch suggeriert diese melodische Wendung der Solostimme, wiederholt von den Streichern auf einem weichen Klangbett über dem summenden Chor, einen Abschluß; doch dann zeigt sich Bernsteins theatralisches Talent. Ein zweiter Chor setzt mit einer harten, rhythmischen Musik ein, welche die ersten vier Verse des Psalms 2 (Warum toben die Heiden) der Friedensfeier gegenüberstellt. Die beiden Ebenen überlagern sich: ein plastisches Bild für die Feinde, in deren Angesicht der Herr dem Psalmisten den Tisch bereitet.

Unterschiedliche Stile standen Bernstein zur Verfügung; als Amerikaner, der, wie die meisten Komponisten seiner Zeit, auf der Suche nach einem spezifisch amerikanischen Idiom war, orientierte er sich am Jazz, doch auch an der Musik von Strawinsky sowie an anderen Errungenschaften der Tradition: Der Begriff „Eklektizismus“ hat wenig negativen Beigeschmack in angelsächsischen Ländern. Tatsächlich sollte man etwa an Prelude, Fugue and Riffs für Soloklarinette und Jazz-Ensemble mehr die nahtlose Synthese bewundern, als irgendwelchen Einflüssen nachzuspüren. Die Musik der Einleitung, in ihrer eckigen, grellen rhythmischen Vertracktheit eher abstrakt anmutend, mündet in die laszive, doch strahlende Beleuchtung eines Striptease-Lokals. Nach diesem Teil der Blechbläser und des Schlagzeugs tritt die Saxophongruppe mit einer Fuge hervor, in der wieder das Metrum durch komplizierte Rhythmen aufgehoben wird. Ansonsten setzt Bernstein auf die verbindende Kraft des Jazz-Idioms, wenn er die „Riffs“ „for Everyone“ schreibt. Eine Soloklarinette – der Big-Band-Solist Woody Herman war der Auftraggeber des Stückes – beginnt den Reigen, und Bernstein ahmt hier das Abschnurren einer Big-Band nach, auch wenn er den Satz von der Blockhaftigkeit eines originalen Arrangements ins Artifizielle steigert: das Verschränken von Einsätzen hat mehr vom kunstvollen, geplanten Motivspiel einer „klassischen“ Komposition als von der Selbstorganisation einer Big-Band. So bleibt eine wesentliche Differenz zur Vorlage.

Die beste aller möglichen Welten

Mit dem Begriff Musical sind Bernsteins Bühnenwerke vielleicht nicht optimal bezeichnet: Mit belangloser Show haben gerade die beiden letzten Arbeiten für das Theater nichts zu tun. Candide, komponiert 1955/56, widmet sich gar einer der zentralen philosophischen Debatten, nämlich dem Übel in der Welt – allerdings über den Umweg über die Kunst. Voltaire hatte 1759 in seinem satirischen Roman Candide oder Der Optimismus die Lehre deutscher Philosophen, dass unsere Welt „die beste aller möglichen Welten“ sei, gegeißelt; wenn Bernstein dieses Thema aufgriff, dachte er wohl unabhängig von der unterhaltenden Komponente des Stoffes auch eine politisch-ethische Dimension mit: Die Widrigkeiten unserer Welt sind nicht schönzureden.

Die Musik, brillant komponiert und köstlich ironisch, ist dementsprechend kein oberflächliches Broadway-Entertainment. Schon die Ouvertüre wird von Doppelbödigkeit auch in den witzigsten Momenten geprägt. Man hört scheinbar konventionelle Begleitfiguren, nachdem man mit einer Fanfare in das Stück hineingestolpert ist – doch die Baßtöne sind kompliziert, versetzt zum Schlag notiert. Das rasend-leichte Thema (in den Violinen) wird plötzlich verkürzt (in der Klarinette), eine überraschende Wendung führt zum zweiten Thema, das in weichen Sexten vom Glück Candides erzählt – doch die scheinbar so regelmäßig gebaute Melodie ist mit Taktwechseln durchsetzt. Bis zur Schlußkadenz kommt nichts so, wie man es erwartet. Die Ouvertüre ist trotz ihres klaren, an der Sonatenform orientierten formalen Aufbaus unvorhersehbar – wie das Leben des unglücklichen Candide.

Somewhere: Diese Melodie ist wohl der Mittelpunkt der West Side Story, und sie wirkt weit über den Augenblick hinaus, an dem sie das erste Mal gesungen wird. In der dramatischen Situation, in der sich die junge Puertoricanerin Maria und ihr Geliebter Tony, der einer verfeindeten Bande angehört, befinden, erscheint es als Rettung. Tony hat gerade den Bruder von Maria getötet. In die Unruhe der Musik erscheint plötzlich, wie ein unerwarteter Ausblick, der charakteristische Melodieschritt des Somewhere. „Irgendwo“, so singt eine Stimme sanft nach einem zärtlichen Scherzo, „gibt es einen Platz für uns, Friede und Ruhe“. Eine verschlossene Tür scheint aufzuspringen, die unglücklich Liebenden sind kurz ihren Sorgen enthoben. In aller anrührenden Schlichtheit komponiert Bernstein immer ein bißchen kunstvoller, als es die Kollegen vom Broadway getan haben würden. Violoncello und Violine, die sanft einsetzen, begleiten die Stimme in Imitationen. Doch man nimmt dies nicht als kompositorische Gelehrtheit wahr, sondern als zusätzlich überzeugende Dichte der Musik. Es ist dieses Kunststück, das Bernstein vielleicht tatsächlich zu so etwas ähnlichen wie einem amerikanischen Mozart machte.

Prof. Michael B. Weiß

Einspielungen zum Thema

01.02.1999
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Bernstein Century Edition / Sony Classical
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02.02.2004
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Prelude, Fnugg & Riffs / BIS
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