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ARD-Musikwettbewerb Ein Fenster zu... Kompass

Ein Fenster zu...

Modest Mussorgsky

Hör-Tipps anhand von ausgewählten Werken

Kurz vor seinem Tod, 1881, malte Ilja Repin den Komponisten Modest Mussorgsky: vom Alkohol gezeichnet, im Morgenrock. Zu der Zeit war der Komponist bereits im Krankenhaus. So schonungslos realistisch ist dieses Bild, dass man dem Menschen direkt gegenüber zu stehen glaubt. Diesem Eindruck entspricht die Wirkungsgeschichte seines populärsten Werkes: Bilder einer Ausstellung. Jeder kennt sie, jeden Zuhörer sprechen sie an. Fast ebenso bekannt ist, dass Mussorgsky als vielleicht wichtigstes Mitglieder der losen Komponistengruppe „Mächtiges Häuflein“ Ursprünglichkeit, Dilettantismus im guten Wortsinne, erreichen wollte. Kompositionsunterricht hat er nie erhalten. Paradoxerweise ist gerade diese ursprüngliche Musik dieses Komponisten im unauthentischen Zustand bekannt geworden.

Werkauswahl

Im Falle der berühmten Bilder einer Ausstellung war es nämlich die Orchestrierung von Maurice Ravel, die dem Werk geradezu zur Volkstümlichkeit verhalf. Obwohl sie keinesfalls den Stil Mussorgskys nachahmte, traf sie mit modernen Mitteln den Geist der Suite sehr genau. Mussorgsky hatte in dieser imaginären Bilderschau einem verstorbenen Freund, dem Maler und Architekten Victor Hartmann, ein Denkmal gesetzt. Die erste der Promenaden, die, einem umhergehenden Betrachter gleich, die Sätze der Ausstellung verbinden, instrumentierte Ravel sehr blockhaft. Die fünftönige, fanfarenartige Eröffnungsmelodie wird von der Solotrompete gespielt; sie wird dreimal von einem Bläserchor beantwortet. Es ist, als ob eine Menge von Menschen mit einem Vorsänger abwechselt. Das ganze Stück wird aus diesem einen Gedanken entwickelt, auf einen Vortrag zu antworten, ihn zu reflektieren. Die einsetzenden Streicher beziehen sich auf den Blechchor und bestätigen die Melodie der Holzbläser, dann scheint das Orchester sich an den Vorsänger des Beginns zu wenden, der nun seinerseits antwortet. Die choralartige Schlußentwicklung wirkt wie eine Vereinigung der Gegensätze von Solo und Tutti. Mussorgsky scheint, so könnte man dies deuten, eine Menge Menschen zu der Ausstellung einzuladen und reiht sich dann in diese Menge ein. Dennoch bleibt er als Betrachter ein Individuum.

Die andere Wahrheit des Originals

Vielleicht kann Ravels Fassung in dieser Hinsicht einen Charakterzug der originalen Klavierfassung nicht nachbilden – denjenigen der Einsamkeit eines einzelnen Pianisten. Sehen wir uns also die originale Version für Klavier solo an. Die Promenade, mit welcher der Autor auf das mühevolle Arbeitsbild Bydlo reagiert, hat nur in der Klavierfassung ihre eigentümliche stille Nachdenklichkeit. Besonders in der tiefen Beantwortung des Themas hallt Bydlo noch nach. Erst im subjektiven Kommentar der Promenade tritt die Qual der Schwerstarbeit hervor. Dass Mussorgsky diese Interpretation selbst stützt, zeigt sich in Cum mortuis in lingua mortua („Mit den Toten in der Sprache des Todes reden“): Das Promenadenthema tritt gleichsam in ein Bild ein, beginnt mit dem Bild des Toten zu sprechen. Was die Promenaden von Beginn an versprochen haben, wird nun eingelöst: das beinahe vollständige und einfühlende Aufgehen des Betrachters im Angeschauten. Vielleicht sind das ja auch gar keine realen Bilder, sondern bloße Erinnerungen dieser Bilder.

Als Orchesterscherzo gehört Mussorgskys Nacht auf dem kahlen Berge zu den sehr bekannten Tonbildern, spätestens seit Leopold Stokowski in dem farbenfrohen Disney-Film Fantasia eine visualisierte Version dirigierte. Was wie ein genialer Orchesterreißer wirkt, hat jedoch eine längere Geschichte. Weniger bekannt ist eine spätere Fassung mit Chor, die als ein infernalisches Traumgesicht in die Oper Der Jahrmarkt von Sorotschinzy Eingang finden sollte. Doch was trieb Mussorgsky, einen solchen heidnischen Teufelsreigen zu komponieren und dann auch so lange an ihm festzuhalten? Die engen, manischen Streicherfiguren, zu denen die Geister bedrohlich näher kommen (wie von ferne werden die ersten Violinen hörbar), die schwere, wie anti-liturgische Melodie auf den Ketzertext „Tenemos, Tenemos, Allegremos!“, die Antwort der Hexen – das alles sind keine ironischen Bilder des Makabren. Vor allem, wenn sich dieser erste Teil wiederholt, wird der kultische Charakter offenbar. Das ist keine bloße wilde Walpurgisnacht. Nachdem der Schwarzgott erschienen ist, wird eine ganze Schwarze Messe gefeiert, mit Zwergengesängen wie von chimärischen Ministranten und unheiligen Priesterworten. Keine Rede davon, dass der Sabbat von der Sonne oder den Mächten des Guten unterbrochen oder verscheucht würde. Im Gegenteil: Die in einfachster Trauer von der Klarinette intonierte Melodie könnte so auch in den Opern Mussorgskys stehen. Man hört: Dieses Traumbild ist eines von Verwüstung und Gewalt.

Chronist der Sprachgenauigkeit

Im Bereich der Oper war Mussorgsky sein eigener Librettist, und obwohl er als Komponist von Liedern Texte russischer und auch deutscher Autoren vertonte, schrieb er auch hier manchmal seine Texte selbst. Die Lieder des zauberhaften Zyklus Kinderstube entstanden, in Text und Musik, teilweise an einem einzigen Tag, wie Momentaufnahmen von Stimmungen, Schumann darin nicht ganz unähnlich. Was Mussorgsky hier zeigt, ist ein Höhepunkt musikalischen Realismus’. Er stellt in diesen Miniaturen mit einfachsten Mitteln kleine Kinderszenen dar: Wie etwa in Nr. 6 Kot Matros, („Der Kater namens Matrose“) ein Kind ein Erlebnis mit einem vogelfangenden Kater hat. Eingefangen ist, wie das Kind mit einer lebhaft schnatternden Aufgeregtheit angelaufen kommt und mit volksliedhafter Melodik seine Geschichte los wird; wie das Kind den lauernden Kater entdeckt, listig den Plan faßt, den bedrängten Vogel zu retten, und – als die Unschuld selbst, wie man der feinen Verlangsamung anhören kann – dem Kater einen Hieb verabreicht. Aber an dieser Stelle der kleinen Geschichte setzt der Schmerz ein – der Käfig war doch so hart! In wenigen Sekunden, mit ein, zwei Pinselstrichen zeichnet Mussorgsky die Tröstung durch die Mutter. Das Nachspiel ist nicht original; Mussorgsky hatte die Szene gleichsam mit dem Seufzer des getrösteten Kindes ausklingen lassen und die Künstlichkeit des Liedes in eine realistische Darstellung münden lassen. Es ist also keine Darstellung der Handlung, sondern eine Darstellung der Erzählung des Kindes.

Erst in den letzten zwei, drei Jahrzehnten hat man die Originalfassung des Boris Godunow, einer der bedeutendsten Opern des 19. Jahrhunderts, neu schätzen gelernt. Vielleicht tut jedoch unser modernes Echtheitsdenken der für sich genommen genialen Fassung Rimsky-Korssakoffs unrecht. Man darf nicht vergessen, dass sie repräsentiert, wie Mussorgsky lange Zeit gesehen wurde und wie sehr daher auch Bearbeitungen ein Teil unseres Bildes von ihm sind. Ohnehin ist seine Konzeption des Stückes so stark, dass die Frage nach Fassungen in den Hintergrund tritt. Bereits im Prolog ist in nuce bereits das ganze Drama der Handlung angelegt. Das ist typisch für Mussorgskys eigene, sehr bildhafte und kaum logisch voranschreitende Handlung. Aus zwei Perspektiven, der des Volkes und der des neuen Herrschers Boris, wird das Geschehen geschildert. Beide Seiten, das zeigt der Anfang, der wie ein Strom der Geschichte alles mitreißt, sind nicht Herr der Lage. Das Volk bekommt seine Gebete, Boris möge sich erbarmen und Zar werden, von einem brutalen Aufseher eingepeitscht; der Gesang der Menge, der so gequält wirkt und so sehr an die Promenadenmelodie der Bilder erinnert, ist erzwungen, die albtraumhafte Not, die die chromatischen Bewegungen ausdrücken, jedoch echt. Der unvermittelte Schwenk auf den einsamen Boris zeigt, dass es diesem nicht besser geht. Er hat Schuld aufgeladen, die ihm Angstzustände einbringt (man höre die desillusionierte harmonische Ausweichung). Sein Heil kann er nur in einer innigen Anrufung Gottes zu finden hoffen, in einer Musik von unbeschreiblicher Süße. Es ist denn auch im folgenden ersten Akt der Mönch Pimen, der unermüdlich und voller Trauer die Leidensgeschiche Rußlands schreibt. Wenn die Kirche schon nicht helfen kann, so kann sie zumindest als Chronist die Wahrheit festhalten. Vielleicht erscheint uns Mussorgsky sogar auf seinem berühmten Porträt als jener Chronist, aber einer, der seine Betroffenheit nicht wie ein Mönch stoisch ertragen zu vermochte.

Prof. Michael B. Weiß

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